Forschungsprogramm

Interdisziplinäres Promotionskolleg „Gebrochene Traditionen? Jüdische Literatur, Philosophie und Musik im NS-Deutschland“

Zwischen 1933 und 1938/45 existierte innerhalb Deutschlands ein relevantes intellektuelles, literarisches und künstlerisches Leben der aus dem öffentlichen Raum ausgegrenzten jüdischen Intellektuellen, SchriftstellerInnen und MusikerInnen, welches noch immer einer weiteren wissenschaftlichen Aufarbeitung harrt. Im Vergleich zur Geschichtswissenschaft besteht in den vertretenen Disziplinen ein Zeitverzug bei der Erschließung der intellektuellen und künstlerischen Aktivitäten, die seit 1933 innerhalb Deutschlands – vermittelt, offen artikuliert oder illegal verbreitet – auf die soziale Entrechtung, Ausgrenzung und schließlich Ermordung großer Teile des europäischen Judentums reagierten. Bereits 1997 resümierte Saul Friedländer jedoch in seinem Buch Nazi Germany and the Jews. The Years of Persecution, 1933–1939, dass man in vielen wissenschaftlichen Darstellungen „die Opfer dadurch, daß man implizit von ihrer generellen Hoffnungslosigkeit und Passivität ausging oder von ihrer Unfähigkeit, den Lauf der zu ihrer Vernichtung führenden Ereignisse zu ändern, in ein statisches und abstraktes Element des historischen Hintergrundes verwandelt“ habe (dt. 1998; 2. Aufl. 2000, 12). Er formulierte gegen dieses Verständnis aus historischer Sicht einen methodischen Ausgangspunkt seiner Arbeit, der implizit auch als grundlegender Ansatz des Promotionskollegs gelten kann: die verstärkte Hinwendung zum innerjüdischen Leben. Sie soll verfolgte SchriftstellerInnen, KünstlerInnen und Intellektuellen jüdischer Herkunft als Träger und Akteure einer literarischen und musikalischen Kultur sui generis sichtbar machen – immer im Bewusstsein dessen, dass dieser Kultur engste zeitliche, politische und inhaltliche Grenzen gesetzt waren und dass sie in ihren Entwicklungen alles andere war als autonom. Der äußere, von der NS-Kulturpolitik ausgeübte Zwang eine ‚jüdische Kultur‘ zu schaffen, hatte hier vielmehr seine Kehrseite in einem Vorgang, den Arnold Zweig im Exil als „Selbstbesinnung auf jüdische Herkunft und jüdische Zukunft“ bezeichnete (1934, 305). Insbesondere innerhalb Deutschlands beinhaltete dies die Suche nach einem positiv formulierten Selbstverständnis – den Versuch einer Bewahrung und Findung eigener Identität in einem Moment, da diese von außen vollständig in Frage gestellt war. Veränderte intellektuelle und künstlerisch-ästhetische Konzepte entwickelten sich vor dem Hintergrund der in einem (separierten) jüdischen Kulturkreis geführten ‚öffentlichen‘ Debatten. Sie verliehen dem kulturellen Schaffen jener Jahre eine charakteristische Prägung, welche im Promotionskolleg anhand der gemeinsamen Forschungsfrage einer kritischen Re-Lektüre von intellektuellen, literarischen und künstlerisch-ästhetischen Traditionsbezügen im kulturellen Leben deutscher Juden der 1930er und frühen 1940er Jahre im NS-Deutschland aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven an Kontur gewinnen soll.

Bereits vorliegende Forschungen verweisen darauf, dass – forciert durch politische Zensur, Ausgrenzung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerungsminderheit in Deutschland – die damaligen Entwicklungen in Literatur, Philosophie und Musik stärker als in anderen Zeiten geprägt waren von einer kritischen Evaluierung überkommener Traditionsbezüge und, damit einhergehend, erkennbarer (Neu-)Bestimmungen intellektueller und künstlerisch-ästhetischer Positionen ihrer Akteure.

Angesichts der Krise des Emanzipationsprojektes, die sich seit der Reichsgründung bis in die Jahre der Weimarer Republik zunehmend verstärkt hatte, waren dabei schon vor 1933 durchaus divergierende Strategien entworfen worden, um der durch die gesellschaftlichen Diskriminierungen aufgeworfenen Problematik eigener sozialer, kultureller wie nationaler Selbstbestimmung zu begegnen. Guy Miron konstatierte in seiner Betrachtung des historischen Diskurses der letzten Jahre der Weimarer Republik und der ersten Jahre des Nationalsozialismus unter Deutschen: „their attempts to present past images based on liberal values can be seen as a part of the broader struggle for the future of German society.“ (2011, 26) Diaspora-Konzepte im Zeichen des Sozialismus oder Anarchismus, des Humanismus, des konservativen Universalismus oder eines wie auch immer gearteten Territorialismus gerieten innerhalb Deutschlands aber seit 1933 ebenso in die Krise wie jede Propagierung der Assimilation, die sich auf wesentliche Grundannahmen der Aufklärung berief und der sich als radikaler Form der Akkulturation die Mehrheit der deutschen Juden vor 1933 verschrieben hatte. Seit 1933 öffneten sich daher mehr und mehr deutsche Jüdinnen und Juden dem Zionismus, der als einziger dieser konzeptionellen Ansätze den programmatischen Versuch unternahm, ein jüdisches Selbstverständnis zu entwickeln – und zwar weitgehend unabhängig vom ‚deutschen‘ Paradigma.

Für SchriftstellerInnen, KünstlerInnen und Intellektuelle jüdischer Herkunft verschärften sich in diesem Sinne seit 1933 innerhalb Deutschlands die politischen und kulturpolitischen Rahmenbedingungen und Spielräume, innerhalb derer wie auch immer ausgerichtete Positionsbestimmungen zu Traditionen deutscher und europäischer Kultur im Kontext kultureller wie künstlerisch-ästhetischer Neupositionierung verhandelt wurden bzw. überhaupt noch verhandelt werden konnten.

Kulturelle Aktivitäten im NS-Deutschland müssen vor diesem Hintergrund – auch in ihren philosophischen und künstlerisch-ästhetischen Traditionsbezügen – seit 1933 vor allem auch als Ausdruck sprachlicher bzw. künstlerischer Handlungen in einem spezifischen historischen wie politischen Kontext gesehen werden. Sie wurden ausgeübt unter dem existenziellen Druck dieser Jahre wie in dem zeitgenössischen Bewusstsein, dass gerade die aus aufklärerischem Denken hervorgegangene Position der Emanzipation in die (deutsche) bürgerliche Gesellschaft vom NS-Staat offiziell verweigert wurde. Aufgrund der Maßgaben der NS-Kulturpolitik markierte vielmehr jede Bekundung einer gleichberechtigten kulturellen Zugehörigkeit zum deutschen Staat oder zur deutschen Kultur eine der wesentlichen Leerstellen, die das kulturelle Leben von KünstlerInnen, SchriftstellerInnen und Intellektuellen jüdischer Herkunft im NS-Deutschland nachhaltig prägen sollten und die in diesem Sinne bereits als eine seiner entscheidenden Deformationen beschrieben werden müssen: Eine durch die staatliche Zensurpolitik geforderte programmatische Trennung von sogenannter ‚deutscher‘ und ‚jüdischer‘ Kultur und – damit einhergehend – die Beschränkung kultureller Entwicklungen in dem sich nach 1933 im NS-Deutschland formierenden jüdischen Kulturkreis auf rein ‚jüdische‘ Bel­an­ge, also auf die von Zensurmaßnahmen erzwungene Ausbildung einer ausschließlich ‚jüdischen‘ Literatur, Musik und Kunst.

Das Verhältnis zu Traditionen deutscher, jüdischer und europäischer Kunst und Kultur wurde in diesem Sinne zu einer entscheidenden Frage intellektueller und künstlerisch-ästhetischer Positionsbildungen sowie erkennbarer Bemühungen um kollektive Selbstverständigung in und zu einem rassistischen und antisemitischen System, die in allen Promotionen an unterschiedlichen Gegenständen untersucht werden soll und die – je nach thematischer Ausrichtung der einzelnen Dissertation – auch zu unterschiedlichen Erkenntnissen über die individuellen künstlerischen wie intellektuellen Positionierungen der damaligen Akteure führen wird.

Das Kolleg reiht sich mit diesem Forschungsprogramm ein in die internationalen Bemühungen der NS- und Holocaust-Forschung, im Rahmen derer es zudem in seiner spezifischen disziplinären Zusammensetzung wie inhaltlichen Ausrichtung einen originären Anspruch erhebt.

Theoretische, methodische und forschungspraktische Arbeitsfelder interdisziplinärer Kooperationen

Interdisziplinäre Kooperationen des Promotionskollegs ergeben sich aus der gemeinsamen Forschungsfrage nach: „Gebrochenen Traditionen?“. Diese generiert vier Arbeitsfelder interdisziplinärer Zusammenarbeit (Querschnittsthemen), in denen die Promotionen thematisch angesiedelt sind.

Die dabei vorgenommene Trennung der Arbeitsfelder (I) und (II), also der exemplarisch angelegten Untersuchungen von Positionsbestimmungen jüdischer Intellektueller, Schriftsteller und Musiker im Kontext von Traditionen deutscher und europäischer Kultur (I) einerseits und jüdischer Kulturen (II) andererseits, erfolgt dabei vor allem zu heuristischen Zwecken und verdeutlicht lediglich eine Fokussierung spezifischer thematischer Fragen im jeweiligen Feld. Die innere Bezogenheit beider Arbeitsfelder und deren Wechselwirkungen liegen jedoch auf der Hand. Diese wird daher im thematischen Schwerpunkt (III) Zwischen jüdischen Traditionen und europäischer Moderne in exemplarisch angelegten Frageansätzen noch einmal ausdrücklich fokussiert. Ein (IV) gemeinsames Arbeitsfeld interdisziplinären Austausches besteht schließlich in Fragen der Sicherung und wissenschaftliche Aufbereitung von Primärquellen in den drei Disziplinen.

 

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